Wenn es ums Heiraten geht – Erfahrungen von unzähligen Festen mit der Stubemusig 

 

An einem jener Feste spielte eines jener Ein-Mann-Orchester, die jeweils unter dem Stichwort Unterhaltung in Kleininseraten von Tageszeitungen für sich werben. Bitte ausreissen, heisst es neben der Kontaktadresse, auf dass der nächste Hochzeits-Auftritt nicht verloren gehe. Zugegeben, vielleicht steht in den Inseraten eher Bitte ausschneiden. Doch Ausreissen wäre mir näher gelegen, damals an diesem Hochzeitsfest, als ein Soloentertainer auf einer Elektro-Orgel mit voller Klangstärke zeigte, wie umfassend sein Repertoire war. Zum Glück sass meine Schwester direkt neben mir, das Essen war vorzüglich, so überstanden wir gemeinsam diesen Abend. Denn neben dem musikalischen Grundpegel verunmöglichte auch die fixierte Sitzordnung menschliche Begegnungen. An der Basis der U-förmig angeordneten Tische vereinsamte langsam das Hochzeitspaar ohne Vis-à-vis und Nebenan, von nun an offenbar zurückgeworfen auf die traute Zweisamkeit. Links befand sich der Familienclan der Braut, mehrheitlich aus einem Schweizer Bergkanton stammend. Rechts tafelten die süditalienischen Verwandten des Bräutigams. Und wer im Verlaufe des Abends überhaupt zueinander fand, konnte sich über die tiefen Polentagräben hinweg doch nicht verstehen. Aber die Fotos dieses Festes waren zauberhaft: farbig, harmonisch und stimmungsvoll. Was für schöne Bilder! Was für eine schöne Hochzeit! Ich muss mich getäuscht haben: Das Fest kann unmöglich so unsäglich gewesen sein wie in meiner Erinnerung.

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Von einem andern Hochzeitsfest habe ich nie Fotos gesehen. Umso klarer blieben meine inneren Bilder, angefangen bei der Autofahrt an einem regnerischen Sommertag über Naturwege in eine einsame Waldhütte. Ein ziemlich improvisierter Party-Service verteilte Salatschüsseln und schnitt heissen Schinken für die 50-köpfige Gesellschaft. Kaum war 19 Uhr vorbei, begannen ein paar jüngere Männer einen Tisch nach dem andern zusammenzuklappen: Jetzt sei es Zeit zum Tanzen. Wir Musikanten packten die Instrumente aus, und es begann eine unvergessliche Stubete. Irgendwann zwischen Walzer und Schottisch wurden Kaffee und Dessert serviert, die Schnäpse trank der Party-Service fast alleine, und der 80-jährige Grossvater samt Herzschrittmacher war trotz Beschwörungen der ganzen Verwandtschaft nicht zu halten – bis weit über Mitternacht lüpfte er ständig sein Tanzbein. Zu einer Zeit während der wir anderswo erst die Instrumente für den Brautwalzer stimmen können, mussten wir bereits an die Wiederholung unseres nicht gerade kurzen Repertoires denken. Diese Hochzeit wurde zu einem Tag der Verbundenheit, zu einem verbindlichen Fest. So gehören Hochzeitsfeste vielleicht zu den letzten generationen- und kulturübergreifenden Festivitäten, an denen alle mit Herz und Seele Anteil haben können.

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Die helvetische Kultur der Hochzeit bewegt sich in der ganzen Bandbreite zwischen der wohlorganisierten Inszenierung von Trauung & Cie. und dem ausgelassenen Fest voller Herzlichkeit. Hochzeiten kommen mir vor wie Findlinge am Wegrand: Brocken schweizerischer Alltagskultur werden in Zivilstandsämtern, Dorfkirchen und Hotelsälen plötzlich sichtbar. An Hochzeiten kommen Lebensträume und Wertvorstellungen an die Oberfläche – manchmal ungeschminkt, manchmal in schönem Design. Und über die Jahre sind auch Veränderungen in der schweizerischen Hochzeitslandschaft auszumachen. Service-Personal, Tanzorchester, Fotografinnen und Fotografen gehören zu den "dritten Trauzeugen", die aus gewisser Distanz mitten drin im Geschehen stecken. Mit der Stubemusig Rechsteiner entwickeln wir manchmal fast einen ethnologischem Blick auf die Hochzeiten, an denen wir auftreten – als wären wir Forscher von einem fremdem Planeten, die die "Stammesrituale der Helvetier zu Beginn des 21. Jahrhunderts" unter die Lupe nehmen. So bekommen wir einen konzentrierten Einblick ins Leben der Schweiz und der in unserer Welt ablaufenden Veränderungen.

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Nach der kirchlichen Trauung und einem ersten Apéro fährt die Gesellschaft per Reisecar gen Landgasthof. Plötzlich hält der Bus, nach dem Aussteigen kriegen alle einen Einkaufszettel und kaufen in den Läden der Umgebung allerlei Nötiges und Unnötiges für den Haushalt des frisch vermählten Paares. Solch konsumistische Rituale waren in den siebziger Jahren noch Mode. Im postmodernen Heute scheinen sie keinen Platz mehr zu haben. Zum Beispiel scheint auch der Brauch des Verschenkens mehrerer Dutzend assortierter Konservenbüchsen seit einigen Jahren ausgestorben zu sein: Ohne Etiketten verrieten sie nichts über ihren Inhalt. Andere ärgerliche Nettigkeiten hingegen leben munter weiter, und das Brautpaar trifft bei der Heimkehr eine mit Luftballons gefüllte Wohnung, in Pflanzentöpfe verwandelte WC-Schüsseln oder den Hausgang voller gefüllter Wasserbecher an – der Nachtbuben Beitrag an den Bund fürs Leben. Beim Spalierstehen vor der Kirchentür präsentiert sich auch das Schweizer Vereinsleben in höchster Vollendung: Es wehen die Fahnen, Guggenmusiken spielen, Skistöcke treffen sich mitten im Sommer, und Kinderchöre jubilieren ihren frisch verheirateten Lehrerinnen zu. In den vergangenen Jahrzehnten wurden auch neue Zeremonien in die Schweizer Hochzeitskultur integriert. Wenn das Paar beim Auszug aus der Kirche mit Reis beworfen wird oder dekorierte Autos hupende Kolonnen bilden, kann das mittlerweile nicht mehr unter dem Stichwort „Brauchtum der Gastarbeiter“ abgehakt werden. Eher auf amerikanische Wurzeln tippe ich bei der allmählichen Veränderung des Brautwalzers in eine Silvester-Party: Um Mitternacht bildet die Hochzeitsgesellschaft einen grossen Kreis und zündet nach dem Lichterlöschen Wunderkerzen an, in der Mitte tanzt das Hochzeitspaar unter einem Regenschirm, wird mit Papierschlangen beworfen und hofft, dass die Musikanten bald einen Schluss finden. Nicht zu unterschätzen sind Hochzeitsfeste auch als Temporär-Jekamis zeitgenössischen Kunsthandwerks und Volkskultur: Die Qualität der Tischkärtli ist so unterschiedlich wie der Standard der schulmusikalischen Konzerte, Hochzeits-Zeitungen, Pfadfinder-Sketchs oder Chrütter-Wybli-Reime. Und um Mitternacht verwandelt sich ein Leintuch in eine Kulisse für aus Socken gebastelte Frösche, die pantomimisch zur Operette ab Kassettentonband oder gar MP3 quaken. Im Zeitalter von Event-Marketing und zielgruppengerechter Ansprache werden Hochzeits-Dramaturgien neu geschrieben. Hochzeitsmanager bieten ihre Dienste an. Hochzeitsmessen kümmern sich um die Inszenieren. Und spezielle Heiratskirchen sind auf diesem Markt gefragt. Vor dem Ringtausch hat‘s auch eine Fahrt mit dem Rolls-Royce oder einer anderen Kutsche in sich. Ab und zu gibt‘s gar eine spielerische Entführung der Braut per Helikopter. Zum Erlebnis-Trend gehören ebenfalls Freiland-Trauungen in Sandgruben mit Saxophon-Begleitung oder Ja-Feste auf mystisch aufgeladenen Waldlichtungen, auf Wunsch römisch-katholisch oder evangelisch-reformiert.

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Jeder Schritt von Braut und Bräutigam und jeder Schnitt an der Hochzeitstorte könnte wegweisend für ihre Zukunft sein. Hochzeitsfeiern sind durchtränkt von symbolischen Handlungen. Zivile Rituale setzen sich vermehrt durch, wohl weil der kirchliche Hintergrund an Bedeutung verloren hat und die christliche Symbolsprache von immer weniger Menschen verstanden wird. Dass Priester, Pfarrerinnen und Pfarrer – falls überhaupt – eher zur Kulisse eines gelungenen Hochzeitsfestes gehören, zeigt etwa die Tatsache, dass kaum einer von jenen, die nach dem Ja-Wort fragen, am Abend auch mitfeiert. Als könnte nicht an einem Fest eine ganz besondere seelsorgerliche Nähe entstehen.

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Die Hochzeitskultur ist ein Masstab dafür, wie tiefgreifend der gesellschaftliche Wandel sich auswirkt: Die Väter sind verstummt! Noch vor wenigen Jahren lauschten kleine und grosse Hochzeitsgesellschaften aufmerksam den Reden der Väter. Kaum je sprachen Väter von ihren Söhnen, meist referierten sie über ihre Töchter. Ich erinnere mich an brillante Speaches aus dem Stegreif wie an Peinlichkeiten betrunkener Brautväter. Nun bröckelt das traditionelle Rollenverhalten auch hier. Seit dem Ende der 1980er-Jahre ergreifen Väter immer weniger das Wort, sondern allenfalls noch den Arm ihrer Tochter, um sie zum Traualtar zu führen. Immer häufiger artikulieren sich hingegen die Mütter. Manchmal versteckt in einer Diaschau, aber persönlicher und ohne den Pathos der väterlichen Auftritte. Die Heirat ganz in weiss scheint den Wertewandel jedoch unbeschadet überstanden zu haben. Und immer noch gibt‘s auch Braut-Jungfern. Mädchen tragen gerne die Schleppe, Brautsträusse oder streuen Blumen auf den Weg der Braut. Manch frisch vermählte Frau wird im Verlaufe ihres Festes heftig an die von ihr erwartete Mutterrolle erinnert: "Kinder soll sie kriegen", wird lautstark gesungen, und als Hochzeitsgeschenk grüssen Esslätze, Windelpakete und andere Babysachen von Wäscheleinen.

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Andere alte Lieder haben tiefere Weisheiten. Bin alben e wärti Tächter gsi – sie sei eine gute Tocher gewesen, stimmt die Braut den alten Emmentaler Hochzeitstanz an: Bin us em Hus, cha nümme dri. Sie werde ihr Leben lang nicht mehr ins elterliche Heim zurückkehren. Nun müsse sie Eltern und Geschwister verlassen und schauen, wie es ihr dusse gehe. Sie fragt ihren wärte Schatz: Hesch mer Platz? Im Moll dieses gesungenen Hochzeitstanzes tönt die Braut etwas traurig. Und es bleibt leicht sentimental, selbst wenn die Gäste zum Juheie! in der dritten Strophe ansetzen: Heute solle ein Tag der Freude sein, mit Spiel und Klang, Trinken, Tanz und Gesang. Juhe! Seid lustig und spart nicht, werden die trülige Hochzitlüt aufgefordert. Die Melodie des Emmentaler Hochzeitstanzes ist mit dem bekannten Guggisbergerlied verwandt und sei einst als Vortanz bei Hochzeiten gesungen und getanzt worden, schrieb Volksliedsammler Wyss bereits 1826. Diese urälterliche Sitte ist bis heute nicht vergessen gegangen. Neben der archaischen Melodie fasziniert auch der Liedtext. Hast du mir Platz? fragt die Braut zuerst. Der Bräutigam singt in der zweiten Strophe, er habe auf sie gewartet, und sein Ätti, Müeti, Brueder u Schwester hätten sie längst gerne bei sich gehabt. Und dann gibt er seiner künftigen Frau eine klare Antwort: Komm endlich, i ha der Platz.

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Die Mitbringsel auf dem Gabentisch und die Bilder von der Hochzeit sollen das Fest über den Tag hinaus verlängern. Doch Erinnerungen haben mit innen zu tun – was nützen da Bilder von aussen? Mitten in der Traufeier kann plötzlich das gesellschaftliche Dilemma mit den Medien auftauchen: Welche Wirklichkeit ist die echte? Das unmittelbare Erlebnis oder die Fotos davon? In einer Tanzpause wurde an einem Hochzeitsfest plötzlich ein grosser Fernsehapparat aufgebaut. Eine Videokassette wurde gestartet, und es lief ein am gleichen Nachmittag gedrehter Film von dieser Hochzeitsfeier: Ohne Interviews, originelle Schnitte oder andere Bearbeitung. Die Hochzeitsgäste guckten sich selber am gleichen Fest auf dem Bildschirm zu. Nur die Medien machen aus einem Ereignis Wirklichkeit. Warum sollte das gerade an einer Hochzeit anders sein? Es gibt Hochzeitspaare und auch Pfarrer, die wünschen, dass in der Kirche nicht fotografiert wird. Und es kommt vor, dass diese Bitte via versteckte Kamera von der Empore umgangen wird. Hinter dem Umgang mit den Bildern an der Hochzeit steckt offenbar die Frage nach unserem Bild von der Hochzeit.

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Der Berner Geiger Baschi Bangerter spielte in seinem Leben an unzähligen Hochzeitsfeiern. Mit seinen Scharotl war er unterwegs mit der swingenden Musik fahrender Menschen. Von ihm habe ich gelernt, dass es für ein gutes Fest die vier Grundelemente Erde, Luft, Feuer und Wasser braucht. Die Erde meint den festen Boden unter den Füssen, aber möglichst keinen Teppich, damit es beim Tanzen so richtig dreht. Stark verrauchte Luft drückt ebenso aufs Gemüt wie ein Durchzug, der jede Feststimmung wegbläst. Das Licht des Feuers zum Beispiel von Kerzen schafft eine warme Stimmung – kein Vergleich mit hell erleuchteten Sälen, in denen kein Mensch zu tanzen beginnt. Und das Wasser kann auch durch den besten Wein nicht ersetzt werden – wer schwitzt, trinkt‘s fast harassenweise. Erde, Luft, Feuer, Wasser und viel Raum für die Begegnung. Und sei es nur beim Anstehen fürs Buffet. Und kein wie üblich überfülltes Programm. Oder mitten im Spektakel unvergessliche Erlebnisse und Gefühle. Solche Hochzeitsfeste entstehen nicht nur in Waldhütten, sondern dort, wo es schlicht Raum hat fürs Zusammensein. Zum Beispiel an einem Fest als bewusster (Neu-)Anfang eines Weges zweier Menschen. Es gibt eine Hochzeit jenseits der inszenierten Bilder.

 

Karl Johannes Rechsteiner